IM SCHLOSS DER VAMPIRE
Die Gipfel der Berges sind noch nicht vom Schnee bedeckt, die Hänge leuchten im satten Grün. Friedliche Stille. Sonnenstrahlen fallen auf eine alte verwitterte Holzbank, die an einer vom Moos bedeckten Felswand ihren Halt fand. Ein schmaler Weg führt an ihr vorbei. Wenn der junge Förster zum Bergkamm aufsteigt, macht er oft hier Rast und schaut ins Tal. Heute aber ist alles anders, denn die Ruhe und Stille werden durch klägliches Wimmern unterbrochen, das aus einem Felsspalt kommt. Der Förster hat Mühe, sich durchzuzwängen und sieht mit Erstaunen einen jungen Hund verletzt auf Stroh. Seine Augen blicken ihn hilfeflehend an. Die Wunde ist groß. Er hat starke Schmerzen. Der Mann trägt ihn, gehüllt in seinem Mantel, behutsam ins Forsthaus und pflegt ihn gesund. Dankbar begleitet ihn nun der Hund. Im Dorf mögen alle das schöne Tier. Die Kinder spielen und toben mit ihm.
Eines Tages, nach Sonnenuntergang, sitzt der junge Förster wieder auf der alten Holzbank, als plötzlich ein Mann, den Hut tief im Gesicht und in einem weiten Mantel gehüllt, vor ihm steht. Er erschrickt. Wo kam dieser Mensch her? „Ich möchte meinen Hund wiederhaben, er ist mir entlaufen, und du sollst ihn an dich genommen haben!“ Dem Förster zieht sich das Herz zusammen. Er hat den Hund lieb gewonnen, und der Mann, der so aus dem Nichts erschien, gefällt ihm gar nicht. Irgendetwas Bedrohliches geht von ihm aus. Der Hund ist spurlos verschwunden. Er kommt auch nicht, als der Förster ihn rief, und er ist froh. „Ich komme morgen in der Früh und hole ihn von euch im Forsthaus ab. Solltest du ihn bis dahin nicht gefunden haben, wird Unheil dich treffen.“ Der Fremde dreht seinen Hut einmal um den Kopf. Der Wind fegt das vermoderte Laub in die Luft, und der Förster kann nicht sehen, welche Richtung dieser Unhold einschlug. Wie benommen sitzt der junge Mann auf der Bank. Er kann nicht fassen, dass er den Hund vom Tode befreit, gepflegt und so lieb gewonnen, abgeben soll. Nie und nimmer! „Ich werde um ihn kämpfen, ich hänge an ihm, ich liebe ihn. Ich werde ihn suchen gehen. Er hat sich bestimmt vor Angst verkrochen. Der Fremde ist eine Gefahr, nicht nur für meinen Hund“, spürt der Förster.
Das schöne Tier hat sich beim Anblick dieses Unholds in die ehemalige Felsspalte verkrochen und bellt seinem Herrn jetzt zu, ihm zu folgen. Viele verschlungene, unterirdische Gänge werden zurückgelegt. Der Hund rennt wie besessen, als kenne er die Wege genau. Der junge Förster hat Mühe ihm zu folgen. Es geht immer tiefer, und plötzlich weicht die Dunkelheit. Wundervolle Harfenklänge hört der Förster, die aus den Steinen kommen. Als er näher tritt, erkennt er Gesichter im Felsen, die ihn traurig anblicken. Sein Hund jault schrecklich, springt an ihm hoch. Er will ihm etwas mitteilen. Mit beiden Pfoten kratzt er an der Felswand. Daraus fällt ein Ring, den der Förster erstaunt aufhebt. In den Hundeaugen glaubt er einen Palast mit Menschen zu sehen. Er streicht ihm liebevoll über das Fell und versucht zu ergründen, was geschehen ist. Benommenheit überfällt ihn plötzlich. Er sieht das Gesicht des Fremden: Eine teuflische Fratze, aus den Augen schießen Blitze zu ihm. Der Förster erschrickt. Eine Vorahnung? Dunkelheit um ihn, keine Harfenklänge. Sein Hund zeigt ihm den Weg zurück.
Rauch liegt in der Luft. Unten im Tal steht sein Forsthaus in hellen Flammen. Der junge Mann ist entsetzt. Es kommt aber noch schlimmer. Er vermisst plötzlich seinen treuen Begleiter. Er ruft ihn wieder und wieder, doch er kommt nicht. Ein böser Verdacht. Das Menetekel des Ungeheuers! Sein Herz krampft sich zusammen. In diesem Augenblick spürt er in seiner Jackentasche ein Ziehen. Der Ring ist es, den der Förster in seine Hände nimmt. Tränen des Kummers fallen darauf. Und plötzlich hört er den Stein sprechen: „Du hast den Ring des Königs der Zwerge, der dir die Kraft verleihen wird, gegen den Herrscher der Vampire zu kämpfen. Steck ihn an deinen Finger, ich führe dich zu ihm. Drei Wünsche hast du, setze sie klug ein, um ihn zu vernichten, und mein Volk und die Prinzessin von dem satanischen Fluch zu erlösen. Sie wurde bei einem Ausritt entführt. Wir Zwerge wollten ihr helfen, denn der Vampir hatte sie bereits am Hals verletzt. Er bemerkte uns, ließ zu Stein uns und die Prinzessin zu einem Hund werden, den er misshandelte, bis er in eine Felsspalte floh, wo du ihn fandest.“
Der Ring weist dem Förster den Weg zu einem zerfallenen Schloss. Schreckliche Luftgeister verdunkeln den Himmel. Doch er lässt sich nicht einschüchtern, sondern beginnt das Schloss zu erkunden, bis die Dunkelheit plötzlich hereinbricht. Der Förster vermeint Stimmen zu hören, Säle und Gänge werden durch Fackeln erhellt. In einem hinteren Raum erblickt er viele Särge, und unten in der Krypta steht in der Mitte ein besonders prunkvoller. Im Begriff ihn zu öffnen, warnt ihn der Ring: „Ein schlafender Vampir ist unverletzbar. Nur ein Kruzifix und die Bibel können dich schützen. Unten am Fluss steht eine Wallfahrtskapelle. Dort findest du alles, um den Herrscher der Vampire zu vernichten.“
Es ist bald Mitternacht. Nebelschwaden steigen unheilverkündend aus dem Tal. Das Schloss wiederzufinden, war sehr schwierig. Die Kirchturmuhr vom entfernten Dorf schlägt die zwölfte Stunde. Aus ihren Särgen erheben sich gespenstische Gestalten, die zu den hell erleuchteten Sälen laufen. Es fehlt noch der Fürst der Vampire. Der junge Förster, der sich in einer tiefen Nische versteckt hält, wartet ungeduldig. Und da erspäht er ihn, furchterregend sein Gesicht. Auf seinen Armen trägt er wie eine Trophäe die Prinzessin, die er in die große Halle tragen will. Der Förster atmet tief durch. In den Händen hält er fest das Kruzifix und die Bibel und tritt todesmutig dem Vampir entgegen. Geblendet entgleitet die Prinzessin den Armen des Blutsaugers. Der junge Förster hebt sie behutsam auf und flieht mit ihr durch die langen Gänge orientierungslos links oder rechts abbiegend, verfolgt vom Vampir. Endlich erreicht er mit der Prinzessin ein Tor, das nicht verschlossen ist. Beide atmen erleichtert auf. Doch was sie hier erwartet, ist noch grauenvoller. Ein Hof mit Skeletten übervoll. Das Mondlicht fällt gespenstisch darauf. Rabenvögel sitzen reglos. Warten. In diesem Augenblick kommt ihnen auch schon der Vampir entgegen. Sein langer schwarzer Mantel öffnet sich, macht das im Frack steckende hautdünne Ungeheuer noch furchterregender, treibt die Angst ins Unermessliche. Ehe die beiden Flüchtenden einen Ausweg finden, entreißt er dem jungen Mann die Prinzessin. Vor seinen Augen verwünscht er sie wieder in einen Hund, den er mit seinem Fuß über die Skelette tritt. Dann packt er den Förster „Du wirst ein willkommener Trunk sein für meine geladenen Gäste“ , zischt der Vampir, noch bevor der junge Mann das Kruzifix gegen ihn erheben konnte.
Im großen Saal erwartet man den Fürst. Jetzt ist nur der Ring die letzte Rettung. Als er ihn am Finger drehen will, ist die Aufregung so übermächtig, dass der Ring vom Finger gleitet und über das Parkett rollt. Der Hund, der sie verfolgte sieht, was passierte und springt ihm sofort nach, schnappt ihn, ehe ein anderer Vampir ihn greifen kann.
Es beginnt eine wilde Jagd durchs Schloss, bis in den großen Saal zurück, wo bereits der junge Mann auf der Festtafel liegt, und die Gäste mit dem Mahl anfangen wollen. Den Ring im Maul springt in letzter Sekunde der Hund auf ihn und legt den Ring in seine Hand. „Sing laut das „Halleluja“, halte fest den Hund an dich gepresst, mit der linken Hand zieh das Kruzifix aus der Tasche und erhebe es gegen die blutrünstigen Vampire.“ So geschehen spricht der Ring weiter: „Die letzte, schwerste Aufgabe steht dir nun bevor. Du wirst den Sarg finden, das Mondlicht weist dir den Weg dorthin. Folge deinem Herzen, es wird dich leiten, meine Kraft erlischt.“ Der Ring zerbrach. Und mit ihm zerbricht ein Teil des Schlosses unter der Macht eines einsetzenden Unwetters. Der Hund zittert, jault vor Angst. Eine Feuerlohe wütet im Bankett-Saal. In dieser Hoffnungslosigkeit bricht plötzlich das Mondlicht durch die Wolken, zeigt den Weg zur Gruft, der durch Flure, Gänge, über Treppen und Stufen gen Krypta geht. Fast atemlos keucht der Förster dem Strahl nach. Der Hund, das Nachlassen der Kräfte spürend, springt vom Arm, seine Nase nimmt die Spur auf. Endlich ist der geöffnete Sarg erreicht. Kruzifix und Bibel legt der junge Mann hinein. Und da sieht er auch schon den Vampir. Wohin jetzt? Der Förster packt seinen Hund, springt instinktiv in den Sarg, hebt das Kreuz und die Bibel gegen den Blutsauger und singt laut das „Halleluja“ wieder. Der Vampir wendet sich angewidert ab.
Der Nachthimmel verliert langsam an Dunkelheit. Es wird höchste Zeit für den Vampir in seinen Sarg zu steigen. Nachtvögel und Fledermäuse kommen ihrem Herrn zu Hilfe. Sie verdecken in großen Scharen verdunkelnd den Himmel. So bleiben dem Fürst einige Minuten nach einem Ausweg zu suchen. Er greift einen Stein, der vor ihm liegt und verwandelt ihn blitzschnell in eine Schlange, die er in den Sarg wirft. Ehe diese ihre Giftzähne in den Förster beißen kann, hat er das Kruzifix in ihr geöffnetes Maul gelegt, und in zuckenden Windungen verendet sie. Die Rufe der Luftgeister werden lauter und mahnender. Nur wenige Sekunden verbleiben dem Fürst seiner Vernichtung zu entrinnen. Er befiehlt seinem getreuen, unterwürfigen Drachen Hollo, übermächtig stark, brutal und feuerspeiend den Sarg zu heben, ihn umzudrehen. Die Eindringlinge werden zu Boden fallen und Hollo wird sie zertreten. So kann sich der Fürst endlich zur Ruhe legen, bevor die Morgendämmerung sich zeigt. Der junge Förster schließt die Augen, nimmt seinen Hund noch fester in die Arme und betet. Von unsichtbarer Macht getrieben fliegt der Drache mit dem Sarg höher und höher durch die Scharen der Nachtvögel und Luftgeister willenlos dem neuen Tag entgegen, bis der erste Sonnenstrahl ihn trifft. Ein Donner dem Beben gleich erschüttert das Schloss. Leichentücher, Särge, Schädel. Knochen wirbeln durch die Luft. Vom Lichtgitter getragen schwebt der junge Förster mit seinem Hund zur Erde.
Wundervolle Gesänge hallen durch den Thronsaal. Der junge Mann öffnet die Augen, im Arm nicht sein Hund, sondern die bildschöne Prinzessin, vom satanischen Fluch befreit. Sie schauen sich in die Augen, beide Herzen weit vor Glück, zeigen sie ihre Zuneigung. Die Dienerschaft jubelt. Fanfaren künden den König an. Erlösung und große Freude stehen auf seinem Gesicht. Glücklich nimmt er seine Tochter in die Arme, er forderte den jungen Förster auf, zu ihm zu treten. „Unser tapferer und mutiger Held, der Befreier von dem bösen Fluch meiner Tochter, hoch soll er leben, ich erfülle ihm jeden Wunsch!“
„Mein König, ich liebe die Prinzessin, unsere Herzen haben sich gefunden. Wir kämpften mit Hilfe des Königs der Zwerge, der uns durch seinen Zauberring Kraft und Stärke gab, den Herrscher der Vampire zu vernichten.“ Der Förster kniet vor seinem König nieder. Der König nimmt die Hand seiner Tochter und legt sie behutsam in die Hand des Helden. Ehe noch der große Jubel losbricht, klingen Harfenklänge durch den Thronsaal. Alle lauschen ergriffen und sehen plötzlich einen Zwerg, auf dem Kopf eine Krone tragend. Würdevoll schreitet er zu den Liebenden. In der Hand hält er den zerbrochenen Ring. Einen Teil überreicht er der Prinzessin, den anderen ihren zukünftigen Gemahl. „Mein Volk und ich bedanken uns, endlich vom satanischen Fluch zu Fels geworden, erlöst zu sein. Ich gebe euch den Ring zurück. Einen Wunsch gewährt er euch, wenn ihr beide Teile zusammenfügt. Lasst niemals zu, dass das Böse über das Gute Macht ergreift.“
Solltet ihr meiner Erzählung Glauben schenken, werdet ihr die alte Holzbank finden und aus dem Felsspalt Harfenklänge noch heute vernehmen.